Gerichtsurteile rund um den Mindestlohn
26.09.2022
Gerichtsurteile rund um den Mindestlohn
Seit 2015 haben erwachsene Arbeitnehmer bundesweit Anspruch auf einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Das bedeutet: Sie dürfen seit Oktober 2022 nicht weniger als zwölf Euro brutto pro Stunde verdienen. Daneben gibt es branchenspezifische Mindestlöhne, die meist in Tarifverträgen festgelegt sind und den gesetzlichen Mindestlohn grundsätzlich nicht unterschreiten dürfen. Doch obgleich es eine Lohnuntergrenze für alle Arbeitnehmer gibt, sind viele Detailfragen offen geblieben. Hier sind dann die Gerichte gefragt. Inzwischen gibt es einige Urteile zum Thema, über die die ARAG Experten hier berichten.
Wer ein Praktikum absolviert, kann keinen Mindestlohn verlangen – auch nicht, wenn dieses für die Aufnahme eines Studiums vorgeschrieben ist. ARAG Experten verweisen auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts. Gescheitert ist damit die Klage einer angehenden Ärztin, die an einem gemeinnützigen Klinikum sechs Monate lang in der Pflege mitgeholfen hatte (Az.: 5 AZR 217/21).
Nach Deutschland in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte haben Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeitsstunden. Dazu gehört nach Angaben der ARAG Experten auch Bereitschaftsdienst. Dieser kann unter anderem darin bestehen, dass die Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person wohnen muss und grundsätzlich verpflichtet ist, bei Bedarf zu allen Tag- und Nachtstunden Arbeit zu leisten. Die ARAG Experten verweisen auf die aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (Az.: AZR 505/20).
Sieht ein Tarifvertrag einen Nachtarbeitszuschlag vor, der auf den tatsächlichen Stundenverdienst zu zahlen ist, ist auch dieser mindestens aus dem gesetzlichen Mindestlohn zu berechnen. Die Klägerin im verhandelten Fall ist langjährig bei der Beklagten als Montagekraft beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft Nachwirkung der Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie in der Fassung vom 24.02.2004 (MTV) Anwendung. Dieser sieht unter anderem einen Nachtarbeitszuschlag in Höhe 25 % des tatsächlichen Stundenverdienstes und ein "Urlaubsentgelt" in Höhe des 1,5-fachen durchschnittlichen Arbeitsverdienstes vor.
Für den Monat Januar 2015 zahlte die Beklagte neben dem vertraglichen Stundenverdienst von sieben Euro beziehungsweise 7,15 Euro eine "Zulage nach MiLoG". Die Vergütung für einen Feiertag und einen Urlaubstag berechnete sie ebenso wie den Nachtarbeitszuschlag für fünf Stunden nicht auf Grundlage des gesetzlichen Mindestlohns, sondern nach der niedrigeren vertraglichen Stundenvergütung. Darüber hinaus rechnete sie ein gezahltes "Urlaubsgeld" auf Mindestlohnansprüche der Klägerin an.
Die Klägerin verlangt mit ihrer Klage eine Vergütung aller im Januar 2015 abgerechneten Arbeits-, Urlaubs- und Feiertagsstunden mit 8,50 Euro brutto und meint, auch der Nachtarbeitszuschlag sei auf Grundlage des gesetzlichen Mindestlohns zu berechnen. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Auch vor dem BAG war die Klage erfolgreich. Der tarifliche Nachtarbeitszuschlag und das tarifliche Urlaubsentgelt müssten nach den Bestimmungen des MTV ebenfalls (mindestens) auf Grundlage des gesetzlichen Mindestlohns von (damals) 8,50 Euro berechnet werden, da dieser Teil des "tatsächlichen Stundenverdienstes" im Sinne des MTV sei. Eine Anrechnung des gezahlten "Urlaubsgeldes" auf Ansprüche nach dem MiLoG könne nicht erfolgen, da der MTV hierauf einen eigenständigen Anspruch gebe und es sich nicht um Entgelt für geleistete Arbeit handelt, erklären ARAG Experten (BAG, Az.: 10 AZR 171/16).
Handelt es sich bei vom Arbeitgeber geleisteten Sonderzahlungen um Arbeitsentgelt für die normale Arbeitsleistung eines Arbeitnehmers, so sind diese auf den gesetzlichen Mindestlohn anzurechnen. Nachtarbeitszuschläge sind indes auf der Basis des Mindestlohns zu berechnen, wenn der vereinbarte Stundenlohn geringer ist. Der arbeitsvertraglich vereinbarte Stundenlohn der Klägerin betrug im konkreten Fall weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde. Weiter ist mit der Klägerin im Arbeitsvertrag eine Sonderzahlung zweimal jährlich in Höhe eines halben Monatslohnes, abhängig nur von vorliegender Beschäftigung im jeweiligen Jahr, vereinbart. Hierzu haben die Arbeitgeberin und der im Betrieb bestehende Betriebsrat vereinbart, diese Sonderzahlungen auf alle zwölf Monate zu verteilen, das heißt jeden Monat ein Zwölftel der Sonderzahlung auszuzahlen. Mit dieser zusätzlichen anteiligen Sonderzahlung ergibt sich ein Stundenlohn der Klägerin von mehr als 8,50 Euro. Daneben sind arbeitsvertraglich Überstunden-, Sonn- und Feiertags- sowie Nachtzuschläge vorgesehen, die die Arbeitgeberin weiterhin auf der Grundlage des vereinbarten Stundenlohnes von weniger als 8,50 Euro berechnet.
Hiergegen hat sich die Klägerin gewandt und geltend gemacht, ihr stünden die Sonderzahlungen weiter zusätzlich zu einem Stundenlohn von 8,50 Euro zu. Der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro sei auch der Berechnung der Zuschläge zugrunde zu legen. Dem ist das Gericht nur teilweise gefolgt. Bei den Sonderzahlungen handele es sich im vorliegenden Fall um Arbeitsentgelt für die normale Arbeitsleistung der Klägerin, weshalb eine Anrechnung auf den gesetzlichen Mindestlohn möglich sei. Dagegen seien die Nachtarbeitszuschläge auf der Basis des Mindestlohns von 8,50 Euro zu berechnen, weil das Arbeitszeitgesetz einen angemessenen Zuschlag auf das dem Arbeitnehmer „zustehende Bruttoarbeitsentgelt“ vorschreibe, erklären ARAG Experten (LAG Berlin-Brandenburg, Az.: 19 Sa 1851/15).
So entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) kürzlich, dass Arbeitnehmer auch bei Krankheit und an Feiertagen Anspruch auf den für sie geltenden Mindestlohn haben. In dem konkreten Fall arbeitete die Klägerin als pädagogische Mitarbeiterin bei einer Firma, die von der Bundesagentur für Arbeit geförderte Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen anbot. Auf ihr Arbeitsverhältnis war der „Tarifvertrag zur Regelung des Mindestlohns für pädagogisches Personal“ (TV-Mindestlohn) in der damals geltenden Fassung anzuwenden. Danach hatte die Klägerin Anspruch auf einen Mindeststundenlohn von 12,60 Euro brutto. Diese Vergütung zahlte die beklagte Arbeitgeberin aber nur für tatsächlich geleistete Arbeitsstunden und für Urlaubstage. Feiertage, Krankheitstage und Ansprüche auf Urlaubsabgeltung vergütete sie nur mit dem geringeren vertraglichen Stundenlohn. Das akzeptierte die Klägerin nicht und verlangte vor Gericht eine Nachzahlung in Höhe von rund 1.030 Euro.
Das BAG gab ihr nun Recht: Nach dem im Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) normierten Entgeltausfallprinzip müsse der Arbeitgeber für Arbeitszeit, die wegen eines gesetzlichen Feiertages oder wegen Arbeitsunfähigkeit ausfällt, dem Arbeitnehmer das Entgelt zahlen, das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte. Was die Höhe einer Urlaubsabgeltung angeht, so bemesse sich dieses ebenso wie das Urlaubsentgelt laut Bundesurlaubsgesetz (BurlG) nach der durchschnittlichen Vergütung der letzten dreizehn Wochen. Beide Regelungen sind nach Meinung der Erfurter Richter auch dann anzuwenden, wenn sich das Entgelt nach einer Mindestlohnregelung richtet und diese – wie hier – weder Entgeltfortzahlung noch Urlaubsentgelt bestimmt (Urteil vom 13. Mai 2015, Az.: 10 AZR 191/14). ARAG Experten weisen darauf hin, dass das BAG diese Aussage nicht im Hinblick auf das neue Mindestlohngesetz, sondern auf einen tarifvertraglich festgelegten Mindestlohn getroffen hat. Gleichwohl kann davon ausgegangen werden, dass das Urteil Präzedenzwirkung für vergleichbare Fälle nach dem Mindestlohngesetz haben wird.
Weder ein zusätzliches Urlaubsgeld noch eine jährliche Sonderzahlung dürfen auf den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn angerechnet werden. Eine vom Arbeitgeber ausgesprochene Änderungskündigung, mit der eine solche Anrechnung erreicht werden soll, ist unwirksam. Das geht aus einem – allerdings noch nicht rechtskräftigen – Urteil des Arbeitsgerichts (ArbG) Berlin hervor. Im entschiedenen Fall zahlte die beklagte Arbeitgeberin eine Grundvergütung von 6,44 Euro pro Stunde zuzüglich einer Leistungszulage und Schichtzuschlägen. Darüber hinaus erhielt die Klägerin ein zusätzliches Urlaubsgeld sowie eine Jahressonderzahlung, die sich nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit richtete. Die Arbeitgeberin kündigte nun das Arbeitsverhältnis, verbunden mit dem Angebot, den Vertrag mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro bei Wegfall der Leistungszulage, des Urlaubsgeldes und der Jahressonderzahlung fortzusetzen. Die dagegen erhobene Kündigungsschutzklage der Arbeitnehmerin war erfolgreich. Denn laut ArbG dient der Mindestlohn dem Zweck, unmittelbar die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers zu entlohnen. Leistungen, die – wie beim Urlaubsgeld und der Jahressonderzahlug der Fall – nicht diesem Zweck dienten, dürfe der Arbeitgeber nicht auf den Mindestlohn anrechnen. Eine Änderungskündigung, mit der eine unzulässige Anrechnung erreicht werden solle, sei deshalb unwirksam (Urteil vom 4. März 2015, Az.: 54 Ca 14420/14).
In einem weiteren vom ArbG Berlin entschiedenen Fall ging es um die Wirksamkeit einer Kündigung, mit der ein Arbeitgeber auf die Geltendmachung des Mindestlohnanspruchs reagierte. Geklagt hatte ein Hausmeister in einem Kleinstbetrieb, der laut Vertrag einen Stundenlohn von 5,19 Euro erhielt. Als er von seinem Chef den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro forderte, bot dieser an, einen Stundenlohn von 10,15 Euro zu zahlen, zugleich aber die monatliche Stundenzahl von 56 auf 32 zu reduzieren. Das lehnte der Kläger ab.
Daraufhin kündigte der Arbeitgeber das seit sechs Jahren bestehende Arbeitsverhältnis. Die Kündigung hatte vor dem ArbG keinen Bestand: Zwar benötigte der Arbeitgeber wegen der geringen Beschäftigtenzahl keinen besonderen Kündigungsgrund. Es handele sich bei der Kündigung jedoch um eine nach § 612 a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) verbotene Maßregelung, entschied das Gericht. Die Vorschrift verbietet dem Arbeitgeber, einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder Maßnahme gerade deshalb zu benachteiligen, weil dieser in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. Der Arbeitgeber habe hier das Arbeitsverhältnis gekündigt, weil der Arbeitnehmer den ihm zustehenden gesetzlichen Mindestlohn gefordert habe. Eine Kündigung aus diesem Grund sei unwirksam (Urteil vom 17. April 2015, Az.: 28 Ca 2405/15).